Traumaexperte etabliert Studiengang der Psychotherapie in Flüchtlingsregion

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Im Nordirak leben inzwischen Hunderttausende Geflüchtete, zum Teil stark traumatisiert. Doch in der Region gibt es zu wenige Fachleute, die sie psychisch betreuen können. Das darf so nicht bleiben, sagte sich Professor Jan Kizilhan, Psychologe an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW).

Es sind Schicksale wie das der kleinen Souzan (Name von der Redaktion geändert), die Professor Jan Kizilhan immer wieder in dem bestärken, was er tut. Souzan lebt mit ihrer Mutter in einem Flüchtlingscamp im nordirakischen Dohuk. Die Achtjährige sprach nicht mehr, vertraute sich nur noch ihrer zerschlissenen Mickeymaus-Puppe an. Zu viele Tote, darunter Familienangehörige, waren dem Kind auf seiner Flucht aus Syrien begegnet. Mit Ohnmachtsanfällen flüchtet das Mädchen immer wieder in eine friedvolle Parallelwelt mit grünen Wiesen und einem See. Ein hinzugezogener Mediziner diagnostiziert Schizophrenie und setzt auf Psychopharmaka.

Ein kleines Stück Normalität
Als Jan Kizilhan über eine seiner Studentinnen von Souzan und der Diagnose erfährt, schaltet er sich ein. Der erfahrene Psychologe und Traumatologe weiß, dass Kinder zum eigenen Schutz solche Gedankenwelten erschaffen, um sich Unerträglichem zu entziehen. „Eine sehr gesunde Reaktion also, keine krankhafte Schizophrenie,“ stellt er fest. „Wir müssen aber aufpassen, dass Souzan nicht nur in ihrer Fantasie lebt, sondern auch in die Realität zurückkehrt.“ Das gelingt dem 54-Jährigen und seinem Team in regelmäßigen Therapiesitzungen Schritt für Schritt. Souzan spricht mittlerweile wieder, nimmt am Alltag im Camp teil. „Als ich sie vor einigen Monaten zum letzten Mal sah, blickte sie irgendwann auf meine Armbanduhr und meinte, dass sie jetzt aber dringend gehen müsse, weil eine Englischprüfung anstehe“, berichtet der Psychologe und Orientalist freudig. Ein kleines Stück Normalität für eine traumatisierte Achtjährige. „Sie wird nie vergessen, was sie erlebt hat, aber wir können ihr beibringen, wie sie damit leben kann. Das ist genau das, weswegen wir hier sind.“

„Hier“ bedeutet in diesem Fall: in Dohuk, einer modernen Großstadt in der Autonomen Region Kurdistan im nördlichen Irak. 400.000 Einwohner, 300.000 Geflüchtete in den 24 Camps rund um die Stadt. Seit 2017 bauen Professor Jan Kizilhan und sein Team an der Universität Dohuk das Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie – kurz: IPP – auf. „Unser Ziel ist es, eine nachhaltige und wissenschaftlich begleitete psychotherapeutische Betreuungsstruktur im Nordirak zu schaffen“, erklärt der Professor, der an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen lehrt und dort das Institut für transkulturelle Gesundheitsforschung leitet. Kernstück des Projekts, das maßgeblich vom DAAD unterstützt wird, ist das Etablieren eines entsprechenden Studiengangs. Pro Jahr sollen am IPP jeweils rund 30 Studierende über drei Jahre theoretisch und praktisch ausgebildet werden und schließlich eine Doppelqualifikation erhalten: einen Master in Psychotherapie und Psychotraumatologie sowie die Approbation als Psychotherapeut. Die Hälfte der Teilnehmenden wird zudem didaktisch so geschult, dass sie künftig einen Teil des Instituts als Dozentinnen und Dozenten übernehmen können. „Wir wollen so langfristig Therapeuten ausbilden, die in der Lage sind, ihren eigenen Leuten zu helfen.“

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DHBW

Zur Person Prof. Dr. Dr. Jan Kizilhan

Psychologische Betreuung: eine Herkulesaufgabe
Und der Bedarf ist riesig. Gerade mal eine Handvoll Psychologen ist in der mit zwei Millionen Menschen besiedelten Region tätig. Das reicht nicht einmal, um Menschen mit „normalen“ psychischen Erkrankungen zu betreuen, geschweige denn eine Bevölkerung, die seit Generationen Krieg, Vertreibung und die Folgen der Saddam-Diktatur verdauen muss. Schon 2006 unternahm Kizilhan deshalb gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen eine erste, vom DAAD unterstützte Recherchereise in den Irak. „Leider hielt man damals an den Hochschulen eine universitäre Ausbildung von Psychotherapeuten nicht für besonders nötig“, erinnert er sich. Das änderte sich 2014, als die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) weite Teile des Irak und Syriens unter ihre Schreckensherrschaft brachte. Plötzlich mussten Hunderttausende Geflüchtete nicht nur medizinisch, sondern auch psychologisch betreut werden − eine Herkulesaufgabe.

Millionen Menschen benötigen Behandlung
Jan Kizilhan ist damals im Irak und in Syrien im Auftrag der Landesregierung Baden-Württemberg unterwegs. Der kurdischstämmige Psychologe und sein Team suchen 1.100 traumatisierte Frauen und Kinder auf, darunter auch die jesidische Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, und bringen sie zur Behandlung nach Deutschland. In dieser Zeit reift die Erkenntnis, dass man nicht alle Traumatisierten ausfliegen kann. „Es würden immer noch Millionen Menschen unbehandelt zurückbleiben“, sagt Kizilhan. In der Universität Dohuk findet der international ausgezeichnete Wissenschaftler schließlich einen aufgeschlossenen Partner, um einheimische Fachkräfte auszubilden. Die moderne Hochschule mit ihren 24.000 Studierenden stellt die Räumlichkeiten und die Infrastruktur für das IPP, das die Duale Hochschule Baden-Württemberg zusammen mit der Universität Tübingen 2017 dort in Betrieb nimmt. Kizilhan und sein Tübinger Kollege, Professor Martin Hautzinger, leiten das Institut.

DAAD als idealer Partner
Seit 2017 sind das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg und seit 2018 der DAAD mit Mitteln des Auswärtigen Amts finanziell im Boot. „Erst durch sie sind wir in der Lage, einen kompletten Jahrgang über drei Jahre auszubilden“, stellt Kizilhan fest. Dass für die DAAD-Förderung eine akademische Ausrichtung der Ausbildung Bedingung war, kommt den Gründern des IPP sehr entgegen. „Wir haben uns bewusst für die Einbindung in eine Hochschule und gegen ein Projekt als NGO entschieden. Wir möchten irgendwann den Staffelstab an die Hochschulen im Land weiterreichen können und so den langfristigen Aufbau des Berufsbildes sichern. Insofern ist der DAAD der ideale Partner für uns.“

Koryphäen aus aller Welt im Einsatz
Ende 2019 werden die ersten 28 Psychotherapeutinnen und -therapeuten ihr Studium abschließen, auch der zweite Jahrgang mit 24 Studierenden läuft bereits. Ausgebildet werden sie nach dem deutschen Psychotherapeutengesetz, das 4.200 Stunden Theorie und 1.800 Stunden Praxis verlangt. 80 Koryphäen aus aller Welt engagieren sich ehrenamtlich als Dozenten – vor Ort oder via Skype. E-Learning-Programme und ein eigens vom IPP-Team erstelltes 400 Seiten starkes Traumahandbuch helfen den Studierenden vom Erstkontakt mit dem Patienten bis zum Abschlussbericht. Ihre Praxisphasen absolvieren sie unter anderem in Flüchtlingscamps wie dem von Souzan, in Kliniken vor Ort und in Einrichtungen in Deutschland.

Nationales Traumanetzwerk
Alle Teilnehmer haben sich verpflichtet, nach dem Abschluss mindestens vier Jahre im Irak zu arbeiten. „Aber wir hoffen natürlich, dass sie langfristig dort bleiben und sich weiter engagieren“, sagt Jan Kizilhan, der selbst alle vier bis acht Wochen aus dem Schwarzwald nach Dohuk reist, um dort zu lehren und die Werbetrommel zu rühren: „Wir haben parallel zum Studiengang ein nationales Traumanetzwerk ins Leben gerufen, um die Gesundheitsverantwortlichen in der Region, die Fachleute in den Ministerien, die Medien und die Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren. Man weiß dort noch viel zu wenig über Traumata und ihre Folgen.“ Regelmäßige internationale Konferenzen sollen das fortan ändern und den Weg ebnen. Denn Dohuk soll keine Insellösung bleiben: Ziel ist es, mit dem IPP und dem Studiengang eine wissenschaftlich fundierte Blaupause zu entwickeln, die sich – kulturell angepasst – auch in anderen Krisengebieten einsetzen lässt. Erste Länder wie Jordanien und die Ukraine mit ähnlichen Problemlagen haben bereits angefragt.

„Ich verstehe unsere Arbeit als Beitrag zur Friedenssicherung und zur Stabilisierung in der Region“, sagt Kizilhan. „Um den Friedensprozess anzuschieben, müssen die Menschen einander wieder in die Augen blicken können. Und das geht nur, wenn auch die seelischen Wunden behandelt werden. Ich weiß, wir stehen ganz am Anfang, und es wird sicherlich einige Generationen dauern, bis genügend psychotherapeutisches Personal ausgebildet ist. Aber irgendwann muss man ja beginnen.“

Ulrike Heitze (25. April 2019)

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